Sydney – Entfernung schafft Distanz

Die Entfernung schafft Distanz. 14.945 Kilometer liegen zwischen Sydney und Kiew.

Australien – eine geplante Reise, fast sechs Wochen, um nach der Pandemie-bedingten Schließung und Wiederöffnung der Grenzen unsere Tochter zu besuchen, die in Sydney lebt und arbeitet. Nach langen Monaten des Wartens, endlich ein Wiedersehen!

Statt iPad-FaceTime – echte Umarmungen, lebendige Gespräche vor Ort und der „live-Blick“ in die unmittelbare Lebensumgebung – zum ersten Mal für mich hier in Sydney.

Meine Gefühle begleiten mich: Ist es ein Urlaub? Eher nicht. Es fühlt sich fast so an wie ein Part-time Umzug, ein Pendeln zwischen Sydney und Frankfurt, auch wenn das Pendeln fast zwei Tage dauert.

Oder ist es eine Flucht aus einem Nah-Kriegsland? Frankfurt – Kiew sind Luftlinie 1.546 Kilometer. Das ist nicht so viel. Kiew – Sydney, das sind 14.945 Kilometer.

Im Stadtbild von Frankfurt habe ich immer öfters Autos mit ukrainischem Kennzeichen gesehen. Und erste lose Kontakte zu einer ukrainischen Familie haben sich ergeben: eine junge Frau mit ihren zwei Kindern und ihrem Vater. Der Ehemann ist nicht dabei, aus bekannten Gründen. Wir unterstützen durch bedarfsgerechtes Einkaufen: Windeln, Babynahrung, Babypflegemittel.

I follow the Moskva. Down to Gorky Park. Listening to the wind of change. An August summer night. Soldiers passing by. Listening to the wind of change (Scorpions, 1991) – Zeitenwende.

Als ich am Morgen nach dem 9. November 1989, dem Fall der Berliner Mauer, aufwachte, hatte sich die Welt verändert. Ein Wunder aus meiner Sicht, unvorstellbar. Aufgewachsen in der Zeit des Kalten Krieges hatte ich meine ersten 30 Lebensjahre immer das Scenario einer atomaren Bedrohung vor Augen, so nahe am Eisernen Vorhang.

Gudrun Pausewangs Roman ´Die letzten Kinder von Schewenborn´ hatten Alpträume in mir ausgelöst. Die politische Debatte und die Friedensdemonstrationen damals um die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses und der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland mich in den Bann gezogen.

Und jetzt das Aufwachen am Morgen nach dem 24. Februar 2022 – eine Zeitenwende. Das Rad wie zurückgedreht. ´Nach vorne in die Vergangenheit‘.

Ich muss mich erst einmal sammeln, um Worte zu finden. Die gefühlte Machtlosigkeit ist ein Schock. Für die – im wahrsten Sinne des Wortes – grenzenlose Solidarität, auch und insbesondere gegenüber den Menschen auf der Flucht, bin ich sehr dankbar. Den Menschen in Polen, Ungarn, Rumänien, der Slowakei und der Republik Moldau gilt mein besonderer Dank! Und den Menschen in der Ukraine mein allergrößter Respekt.

Ein Déjà-vu für die Generation unserer Eltern. Geflüchtet, überlebt, neue Heimat findend, traumatische Bomben-Nächte in ihrer Kindheit. All diese Bilder werden für sie jetzt wieder lebendig.

Ich weiß, es ist eine große Herausforderung viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Aber wenn sie erst einmal fallen gelassen wurden, einer nach dem anderen, dann ist es viel schwieriger, sie wieder aus dem Sog des Strudels herauszuholen. Das ist nun die Aufgabe, die vor uns liegt. Das Foto habe ich an einer kleinen Schleuse an der Nidda zuhause in Frankfurt aufgenommen.

Und hier in Sydney: Mit der geographischen Entfernung gewinnt auch der Geist Abstand. Durchatmen, nachdenken, die Gefühle sprechen lassen. Und sie empfehlen mir Geduld mit den Themen, die mir vorher wichtig waren. Andere Prioritäten sind jetzt bedeutender.

Auch in Sydney, 14.945 Kilometer von Kiew entfernt, weht am Rathaus die ukrainische Flagge im Wind.

 

 

Verwandte Themen