Entscheidungsfindung in einer Krise mit exponentieller Wachstumsrate

Am 2. Februar 2023, nach drei Jahren, ist es endlich soweit: Im Fern- wie auch im öffentlichen Nahverkehr gilt in Deutschland keine Maskenpflicht mehr. Die Pandemie ist offiziell beendet.

Ich denke zurück. März 2020. Für uns, meine Frau und mich brachte die ausbrechende Pandemie große Veränderungen mit sich.

Ich war seit sechs Monaten in Saudi-Arabien als Geschäftsführer eines Chemie-Unternehmens und meine Frau begleitete mich. Ich schätzte meine Rolle und Aufgabe in Jubail sehr. Neue Erfahrungen zu sammeln, viele schöne Momente zu erleben und die Gelegenheit, eine andere Kultur vor Ort kennenzulernen, habe ich sehr genossen.

Wir wohnten, wie bei Expats üblich, in einem Compound. Es waren nur knapp 100 Kilometer bis Manama in Bahrain und wir hatten dort ein wunderschönes Nebenwohnsitz-Apartment, das wir regelmäßig am Wochenende nutzten, oder besser gesagt, nutzen wollten. Das Foto zeigt unseren Blick in die untergehende Sonne in Manama aus unserem Apartment in Bahrain heraus aufgenommen.

Dann, der 7. März. Die samstägliche Fahrt am Ende des Wochenendes über die Grenze zurück nach Saudi-Arabien war nur noch für mich möglich. Meine Frau wurde abgewiesen und wir mussten nach Bahrain zurück. Saudi-Arabien hatte die Straßengrenzen wegen der COVID-19 Zahlen in Bahrain von heute auf morgen dichtgemacht. Mit der Aufenthaltsgenehmigung (IQAMA) kam ich zwar durch, aber nicht meine Frau mit dem Family Visum.

Was tun? Am späten Nachmittag wurden Pläne geschmiedet und entschieden, dass meine Frau noch in der Nacht nach Deutschland zurückfliegt, also nicht allein in Bahrain bleibt.

Ich selbst fuhr am Sonntagmorgen zurück nach Saudi-Arabien und musste schnell feststellen, dass Deutschland auf die Liste der Hochrisikogebiete gesetzt wurde. Die Anzahl der berichteten COVID-19 Fälle in Deutschland stieg, lag aber noch unter der magischen Grenze von tausend.

Meine Gedanken: was passiert, wenn auch zu Deutschland (und möglicherweise später auch Europa und mehr) die Grenzen geschlossen werden? Was, wenn das Land nicht mehr angeflogen wird.

Ich hatte mir eine kleine Excel Tabelle gebastelt und verfolgte den Anstieg der Zahlen. Die waren zwar niedrig, verdoppelten sich aber alle drei Tage. Das hieß von tausend nach hunderttausend lagen gerade mal 2 ½ Wochen, wenn man dem Trend nicht Einhalt gebieten konnte. Eine Katastrophe bahnte sich an, was im Öffentlichen Leben noch nicht so wahrgenommen wurde. Daher meine Sorge.

Kurzentschlossen buchte ich für den kommenden Abend, Montag, den 9. März, ein Ticket mit Lufthansa nach Frankfurt. Ich würde Urlaub nehmen falls nötig oder einfach sehen, wie sich die Lage entwickelt. Der Gedanke, von meiner Familie getrennt zu sein, war unerträglich.

Noch am Montagnachmittag erreichte mich tatsächlich die Meldung, dass Deutschland die 1000er Marke überschritten hatte. Ab Dienstag sollten keine Flüge mehr in Saudi-Arabien von und nach Deutschland gehen.

In weiser Voraussicht buchte ich noch ein Ersatzticket nach London, falls mein geplanter Flug nach Frankfurt doch noch am Montag abgesagt werden sollte. Der British Airways Flug ging etwa eine Stunde nach dem der Lufthansa und war deshalb eine echte Alternative. In Großbritannien wurden die COVID-19 Fälle noch nicht so akribisch erfasst wie in Deutschland. Es war für den Moment ein sicheres Reiseland.

 

 

Dann zum Flughafen nach Dammam. Lufthansa war im Plan, Einchecken, Passkontrolle, Lounge. Alles gut. Doch der Hinweis der Rezeptionistin, „alles im Plan, ja, – in sha Allah“, war mir ein Wink.

Und tatsächlich, eine halbe Stunde vor dem Start wurde der Flug abgesagt. Die Lufthansa Maschine musste im Flug umdrehen und nach Kuwait zurückkehren, weil keine Landeerlaubnis erteilt wurde. Wie gut, dass ich schon das Ersatzticket hatte – der BA Flug war ansonsten schon ausgebucht – und auf diesem Weg über London weiter nach Frankfurt fliegen konnte.

Geschafft. Vereint mit meiner Familie – und das war das Wichtigste.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Ab April war monatelanges Homeoffice in Frankfurt angesagt. Nicht die schlechteste Variante in dieser Situation. Das Visum meiner Frau war inzwischen abgelaufen und die saudische Botschaft in Deutschland geschlossen. Ich musste deshalb später allein nach Saudi-Arabien zurückkehren und dann dort auch noch Quarantänezeit absitzen. Das Bahrain-Apartment hatten wir inzwischen aufgegeben. Und meine Urlaubszeiten in Deutschland waren ständig durch Quarantäne-Bestimmungen überlagert.

Ich einigte mich mit meinem Arbeitgeber auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus familiären Gründen und kehrte Ende 2021 nach Deutschland zurück – früher als geplant. Auf zu neuen Ufern und eine neue Zeitrechnung begann.

Meine Erkenntnis: In einer sich entwickelnden Krise mit exponentieller Wachstumsrate relevanter Kennzahlen darf man nicht zögerlich entscheiden, sondern muss schnell agieren und in alternativen Szenarien denken. Die schnelle Entscheidung, aus Saudi-Arabien auszureisen und das Back-Up Ticket waren ausschlaggebend dafür, dass ich meine Familie schnell wiedersah und vermeiden konnte, monatelang von ihr getrennt zu sein.  Dafür bin ich sehr dankbar.

Alternativen für den weiteren beruflichen Weg waren die mittelfristigen Konsequenzen und auch das war ein bewusst ins Auge gefasstes Szenario.

Bitte nicht falsch verstehen. Ich schätzte meine Rolle und Aufgabe in Jubail sehr. Neue Erfahrungen zu sammeln, viele schöne Momente zu erleben und die Gelegenheit, eine andere Kultur vor Ort kennenzulernen, habe ich sehr genossen. Priorität Nummer Eins war und ist aber meine Familie.

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