Ein Chemiewerk steht im Weg > Prepare for Landing
Sicherheitsexperten hatten Bedenken geäußert. Die dritte Landebahn des Frankfurter Flughafens war geplant und dringend nötig, aber ein ganzes Chemiewerk in Kelsterbach befand sich leider direkt in der Einflugschneise. Für mehrere hundert Millionen Euro musste das Ticona-Werk ab- und wieder aufgebaut werden.
Nur wohin?
Der Industriepark Höchst IPH lag ja ganz in der Nähe und dort hatte die Muttergesellschaft des Kelsterbacher Werks sowieso schon Chemieanlagen in Betrieb. Eine logische Entscheidung? Weit gefehlt. Ein Politikum und ein Interessenspiel-Poker begannen.
Mehr als 50 in Frage kommende Standorte hatten sich als neuer Produktionsstandort für die Ticona-Anlagen beworben. Im März 2007, drei Monate vor der finalen Entscheidung waren noch vier davon im Rennen, darunter auch der IPH.
Die Präferenz der Mitarbeiter und ihrer Belegschaftsvertreter war eindeutig. Denn eine Entscheidung für einen Standort außerhalb des Rhein-Main-Gebiets hätte für viele einen Verlust ihres Arbeitsplatzes bedeutet.
Da tauchte eine weitere Komplikation auf. Die Arbeitszeitmodelle waren unterschiedlich. Im Kelsterbacher Werk wurde mehr als eine Stunde mehr gearbeitet als im IPH.
Und hier war ich als Werksleiter der Betriebe der Muttergesellschaft im IPH plötzlich im Spiel. Die Unternehmensleitung brachte eine Solidaritätsleistung ins Gespräch. Sie erwartete als Gegenleistung für eine mögliche Entscheidung pro IPH eine Angleichung an die höhere Arbeitszeit ohne Lohnausgleich – für die Kollegen in Höchst!
„Unmoralisch“ – titelte die Lokalzeitung ihren Bericht. Und ich gestehe, dass ich diese Meinung durchaus nachvollziehen konnte. Dennoch beschloss ich für mich, für die Angleichung der Arbeitszeiten nach oben zu kämpfen, weil ich der Überzeugung war, damit die Chancen für den Wiederaufbau des Kelsterbacher Werks im IPH deutlich zu erhöhen.
Die Belegschaftsvertretung gab mir die Chance durch ihre Zustimmung für eine Abstimmung innerhalb der Produktionsmitarbeiter in meinem Werk. Eine einfache Mehrheit, 50% +1 Stimme, sollte dafür ausreichen.
Eine erste Testumfrage zeigte mir allerdings, wie weit ich hinten lag, 90% der Produktionsbelegschaft war dagegen. Was tun? Aufgeben war keine Option.
Ich begann damit, die Mitarbeiter in den Aufenthaltsräumen meiner Produktionsanlagen zu besuchen
✳ in allen vier Schichten,
✳ in jeder der sieben Produktionsanlagen,
✳ nachts.
Vier Nächte lang war ich unterwegs und hatte in dieser Zeit Gelegenheit, mit fast allen der knapp 300 anwesenden Produktionsmitarbeitern zu sprechen. Zum Thema Werksverlagerung und zu anderen Themen.
Ehrlich gesagt, wurden diese Nächte für mich zu einem Erlebnis. Sehr anstrengend aber auch sehr erfüllend. Meine Reihenfolge innerhalb der Betriebe hatte sich herumgesprochen und der letzte davon erwartete mich so gegen halb Vier schon mit einem frisch aufgebrühten Kaffee, zum Frühstück sozusagen.
Eine Bemerkung eines Anlagenfahrers aus der Messwarte machte mich allerdings sehr nachdenklich:
„Herr Scharbert, wenn Sie die Abstimmung verlieren und die Unternehmensleitung dennoch die Verlagerung in unser Werk beschließt, dann müssen Sie doch Ihren Hut nehmen, oder?“
Wie ging das Ganze nun aus?
Ich verlor die Abstimmung mit 47% JA Stimmen. Ich war zwar stolz darauf, so viel aufgeholt zu haben, aber knapp daneben ist leider auch verloren. Und drei Monate später fiel die Entscheidung dennoch für die Verlagerung in den IPH.
Ich hatte mich schön verpokert, dachte ich, als mein Sekretariat mir den Hinweis auf einen wartenden Anrufer aus der Messwarte eines meiner Produktionsbetriebe gab. Ein solcher Anruf war eher ungewöhnlich.
„Darf ich durchstellen, Herr Scharbert?“
„Ja klar!“
Es war just der Mitarbeiter am Apparat, der mir damals die oben zitierte Frage des „Hut-nehmens“ gestellt hatte.
„Herr Scharbert, ich weiß, was ich damals gesagt habe. Aber bitte tun Sie mir den Gefallen und bleiben Sie.“
Auch wenn meine nächtlichen Schichtbesuche mich nicht zum eigentlichen Ziel geführt hatten, hatten sie dennoch viel bewirkt. Die verschiedenen Seiten einer Medaille wurden sehr wohl gesehen und wahrgenommen. Verständnis für beide Seiten wurde entwickelt. Ein Dialog auf Augenhöhe. Und der war so wichtig – auch im Hinblick auf die kommenden Integrationsthemen.
➡ Kennst du auch ein Beispiel für einen Dialog auf Augenhöhe aus deinem Umfeld?